Ein bekanntes Sprichwort behauptet, aller Anfang sei schwer. Zehn kleine Bildergeschichten aus aller Welt zeigen, dass neue Herausforderungen in der Tat allerlei Tücken mit sich bringen können. Im Mittelpunkt steht Straßenfotografie: Momentaufnahmen aus Indien und Kuba, aus Namibia und Thailand. Und nebenbei wird auch das Sprichwort auf den Prüfstand gestellt.
Von der Bedeutung des Anfangs wusste bereits Aristoteles zu berichten: “Der Anfang ist die Hälfte vom Ganzen”. Die Worte des griechischen Philosophen machen deutlich, wie wichtig es ist, neue Aufgaben entschlossen anzugehen, um sie erfolgreich zu bewältigen. Mehr als zweitausend Jahre ist das her, etliche Jahrhunderte später sollte Goethe dann behaupten, dass aller Anfang schwer ist. Die pauschale Aussage des Dichters macht jedoch nicht unbedingt Mut, stattdessen könnte sie eher davon abschrecken, etwas neues in Angriff zu nehmen. Schnappschüsse aus aller Welt zeigen im Folgenden einige Situationen, in denen sich die handelnden Personen ganz unterschiedlichen Herausforderungen stellen – Street Photography zur Veranschaulichung eines Sprichwortes.

Inhalte
- 1 Indien: Das Mädchen und das Fahrrad
- 2 Macht Bangkok Mädchen müde?
- 3 Zukünftiger ABC-Schütze in Namibia
- 4 Die Fischer und das Meer
- 5 “Bezwingung” von Havannas Malecón
- 6 Kuba: Bier als Herausforderung?
- 7 Kubas künftiger Schachmeister?
- 8 Telefon für kleine Leute
- 9 Kleine Kiste, große Herausforderung
- 10 Fazit: Ist aller Anfang schwer?
Indien: Das Mädchen und das Fahrrad
Traurig schaut das Kind unter dem Lenker des viel zu großen Drahtesels hervor. Die Kamera fängt einen Blick ein, der den Verdruss widerspiegelt über die schiere Unmöglichkeit, das riesige Rad entsprechend seiner Bestimmung zu bewegen. Warum muss das blöde Ding nur so groß sein?

Doch stopp, noch ist die Geschichte nicht zu Ende! Auf einmal überzieht ein Lächeln das Gesicht der Kleinen und was sie im Schilde führt, wird sogleich deutlich. Nicht auf das Rad steigt sie, was ja auch nicht funktionieren kann, sondern daneben. Geschickt führt sie den rechten Fuß unterhalb der Stange, also quasi durch den Rahmen, zum Pedal auf der anderen Seite. Um so anschließend, zwar unorthodox, aber problemlos, von dannen zu radeln und, schwuppdiwupp, aus dem Blickfeld des verdutzten Beobachters zu entschwinden. Sieh einer an, wie erfinderisch Not macht. Oder, um ein weiteres Sprichwort zu bemühen: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt! Eine von zahlreichen fotogenen Situationen auf indischen Straßen, drei weitere werden noch folgen.

Macht Bangkok Mädchen müde?
Die thailändische Hauptstadt pulsiert und fasziniert. Bangkok ist spannend und vielseitig, oft aber auch laut und hektisch. Bisweilen nervt die Stadt, das bleibt nicht aus. Manche hassen sie daher, während andere sie lieben, so ist es immer wieder zu hören. Auch die Stadt der Shopping Malls ist Bangkok und in einem der Einkaufsparadiese, dem Terminal 21, entsteht die Aufnahme der zwei jungen Damen. Was aber hat sie nur so müde gemacht? Sind sie vom Konsumerlebnis derart beeindruckt, dass sie kurz mal ein Schläfchen machen müssen? Sollte auch beim Shoppen aller Anfang schwer sein? Oder taugt die Szene gar als Sinnbild für den müde machenden Moloch? Vielleicht handelt es sich aber auch einfach nur um einen Inemuri, ein kurzes, nicht sehr tiefes Nickerchen japanischen Ursprungs, das in den unterschiedlichsten Situationen stattfinden kann.

Zukünftiger ABC-Schütze in Namibia
Ondangwa ist eine quirlige Kleinstadt im Norden Namibias. Auffällig sind die vielen kleinen Bars und Barber Shops, Kneipen und Friseurläden in meist einfachen Wellblechhütten. In Erinnerung bleiben außerdem die freundlichen Menschen, die ich überall treffe und die sich gern von mir ablichten lassen. Der kleine Bursche, der mit großen Augen in die Kamera schaut, ist noch zu jung, um lesen und schreiben zu können, das ABC trägt er aber schon auf seiner Mütze. Eine Bürde dürfte das kaum sein, denn irgendwann wird er Lehrerinnen und Lehrer haben, die ihn beim Lernen anleiten. Die Analphabetenrate in Namibia liegt nämlich nur bei 16 %, ein vergleichsweise niedriger Wert. Der Kleine sollte daher gute Bildungschancen haben, zumal ihn seine Familie unterstützen wird. Stolz präsentieren mir die fürsorglichen Großeltern den ABC-Schützen in spe. In diesem Fall wird der Anfang also gar nicht so schwer sein, wie man vielleicht denken könnte.

Die Fischer und das Meer
Nicht überall auf der Welt ist die Fischerei schon industrialisiert, für viele Menschen ist sie auch heute noch ein Knochenjob. Ein gefährlicher obendrein. Bereits mehrfach hatte ich Gelegenheit, den mühevollen Kampf von Fischersleuten mit den Gewalten des Meeres zu beobachten und mit der Kamera festzuhalten. In Südamerika und in Afrika, oder wie hier in Mamallapuram im Süden des indischen Subkontinents. Tagein, tagaus ist der Start für die Männer immer wieder aufs Neue beschwerlich und selbst wenn der gelungen ist, warten draußen immer noch die Gefahren der See.

“Bezwingung” von Havannas Malecón
Die Avenida de Maceo, besser bekannt als El Malecón, ist eine der berühmtesten Straßen der Welt. Legendär ist die Abendstimmung, wenn die untergehende Sonne die alten, teilweise verfallenden Häuser an der Uferpromenade in ein geradezu magisches Licht rückt. Der Malecón ist Treffpunkt und Partymeile, er ist das Wohnzimmer der Habaneros, der Einwohner von Kubas Hauptstadt. Und vielleicht auch der längste Straßenstrich der Welt. Viele Stunden habe ich hier verbracht, um das Treiben zu beobachten und die Stimmung einzufangen. Um Fotos zu schießen an einem der faszinierendsten Orte Havannas, einer ohnehin durchweg spannenden Stadt.

Interessiert beobachte ich die Bemühungen eines Paares, gemeinsam die Ufermauer am Malecón zu erklimmen, um oben anschließend den Weg fortzusetzen. Während der junge Mann keine Mühe hat, hinaufzugelangen, tut sich seine Partnerin, trotz Hilfestellung, zunächst schwer. Hoch das Bein und frontal hinauf, so klappt es nicht. Die Mauer ist zu hoch, der Hebel zu ungünstig.

Versuch macht klug und der nächste Anlauf geschieht nun ohne Hauruck, dafür aber mit Bedacht. Diesmal stellt sie sich mit dem Rücken zur Mauer, er hebt mit an und schon lächeln beide fröhlich von oben in die Kamera, die das nun erfolgreiche Vorhaben der beiden dokumentiert hat.

Kuba: Bier als Herausforderung?
Eine Kneipe in Guantánamo ist Schauplatz der nächsten Szene. Eine Erkenntnis des Reisens, eigentlich banal, lautet: Überall auf der Welt wird Bier getrunken, mal mehr, mal weniger. Und auch in Kuba, das richtigerweise meist mit Rum in Verbindung gebracht wird, weiß man den Bölkstoff zu schätzen. Die Menge, die hier, in der Provinzhauptstadt im Osten des Landes, auf den ersten Blick wie eine echte Herausforderung wirkt, ist in Wirklichkeit gar keine. Denn souverän werden der Protagonist und sein auf dem Bild verdeckter Spezi nach und nach den kühlenden Zapftower leeren und sich am Gerstensaft gütlich tun. Aller Anfang ist schwer? Nicht immer. Insbesondere dann nicht, wenn es um Bier geht. Manchmal trügt der Schein eben auch.

Kubas künftiger Schachmeister?
Schachspiel hat in Kuba eine lange Tradition und es gibt hunderte sogenannter “Schachprofis”. Sie arbeiten als Lehrer, schlecht bezahlt wie andere Staatsbedienstete auch, und messen sich in Wettbewerben. Einen von ihnen habe ich in Bayamo getroffen und bei kubanischem Rum, Havana Club 7 Años, hat er ein wenig aus dem Nähkästchen geplaudert. Die folgende Szene allerdings stammt aus Moa, einer Industriestadt an der Nordostküste, zwischen Holguín und Baracoa.

Aufmerksam lauscht der kleine Schachnovize seinem Lehrer, der ihn geduldig in die Geheimnisse des Brettspiels einführt. Fängt die Kamera hier möglicherweise die ersten Schritte eines künftigen kubanischen Schachgroßmeisters ein? Der Anfang jedenfalls ist gemacht und scheint, ganz offensichtlich, auch gar nicht so schwer zu sein. Dank der fachkundigen Förderung durch den Lehrmeister und auch die eigene Motivation des konzentrierten Knaben trägt ihren Teil sicher bei.

Telefon für kleine Leute
Wir bleiben noch in Moa, wo mein Blick ein kleines Mädchen erhascht, dessen Umgang mit dem Telefon bereits erstaunlich routiniert wirkt. Hilfreich ist dabei der tief hängende, für das Kind leicht greifbare Hörer, der sich anderswo sicher in unerreichbarer Höhe befände. Es scheint sich um ein spezielles “Kindertelefon” zu handeln, das hier, tief im Osten Kubas, kleinen Leuten das Telefonieren erleichtern soll.

Kleine Kiste, große Herausforderung
Ganz sicher wird der kleine Junge irgendwann einmal viel größere Sachen stemmen. Noch aber ist aller Anfang schwer und die ganze Verzweiflung dieser Welt spricht aus seinen Augen angesichts des ach so schweren Kistchens. Hatte er eben noch mit entschlossenem Blick zugepackt, erweist sich die Last schließlich doch deutlich schwerer als erwartet. Aber Bange machen gilt nicht, trotz der offensichtlichen Anstrengung scheint der kleine Kistenschlepper nicht ans Aufgeben zu denken. Eingefangen wurde die Szene im Bundesstaat Chhattisgarh in Zentralindien.

Fazit: Ist aller Anfang schwer?
Was ist nun das Ergebnis der bildgewordenen Sprichwortinterpretationen? Taugt Straßenfotografie dazu, die Richtigkeit der Goethe´schen Aussage auf den Prüfstand zu stellen? Hat der berühmte Dichter recht, wenn er sagt, aller Anfang sei schwer?
Die Szenen zeigen: Es kann so sein oder so. Oder auch ganz anders. Jede neue Aufgabe ist eine spezielle Herausforderung und um diese zu meistern, bedarf es Mut und Entschlossenheit. Und manchmal eben auch die tatkräftige Unterstützung anderer. Wichtig ist in jedem Fall, offen für neues zu sein und die Dinge ohne Zaudern anzugehen. Damit kommen wir zum letzten Bild: Ein kleiner Junge, erneut in Indien, blickt zuversichtlich in die Welt hinaus. Wer möchte bezweifeln, dass er das, was er bald anpackt, auch erfolgreich bewältigen wird? Ganz im Sinne von Aristoteles also, der schon vor zweitausend Jahren dazu anspornte, konsequent den ersten Schritt zu machen.

Last but not least, noch einmal zurück zu Goethe, dem vermeintlichen Urheber eines Sprichwortes, das ohnehin, wie andere auch, schnell zur Phrase wird. Tatsächlich hat sich der Dichter nämlich weitaus differenzierter geäußert als es der Volksmund anscheinend wahrhaben will: “Aller Anfang ist schwer! Das mag in einem gewissen Sinne wahr sein; allgemeiner aber kann man sagen: aller Anfang ist leicht, und die letzten Stufen werden am schwersten und seltensten erstiegen.” So klingt es doch schon ganz anders, nicht wahr?
Die Geschichte(n) und der Hintergrund
Was ist die Idee hinter diesem Text (der nicht ins Raster bisheriger Artikel passt)? Der Gedanke an ein solches Format beschäftigt mich seit längerer Zeit. Eine erste Anregung gab es, als zwei meiner Bilder (Mädchen in Havanna und Tänzer in Guantánamo) unter der Überschrift Poesie der Straße von Spiegel Online gefeatured wurden.
Zwischenzeitlich gab es sogar konkrete Überlegungen, eine zweite Website einzurichten, mit dem Fokus auf Bildergeschichten und einem wesentlichen Schwerpunkt Street Photography. Es gab jedoch gute Gründe dafür, diese Idee wieder zu verwerfen.
Die finale Inspiration stammt nun aus meinen Aktivitäten in einer Facebook-Gruppe, in der hannoversche Fotografen Aufnahmen zu bestimmten Wochenthemen zeigen. Bei der eigenen Bildauswahl “wühle” ich oft in den Abgründen meines Fotoarchivs, wobei so manche Erinnerung an vergangene Reisen und Erlebnisse wieder nach oben gespült wird. Dies ist daher ein Versuch, einige aktuelle Fundstücke nicht sofort wieder in der Versenkung verschwinden zu lassen. Möglicherweise wird es eine Fortsetzung geben, vielleicht wird gar eine Serie daraus – auch die Resonanz wird darüber entscheiden.
0 Kommentare zu ““Aller Anfang ist schwer” – Straßenfotografie zwischen Indien und Kuba”