Tatarstan ist eine autonome Republik in Russland, im äußersten Osten Europas. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung gehört dem Islam an, während das russisch-orthodoxe Christentum die zweitwichtigste Glaubensgemeinschaft bildet. Religion in Tatarstan – also ein spannendes Thema! Wie aber funktioniert das Miteinander von Muslimen und Christen im Reich der Tataren? In Kasan, der Hauptstadt, habe ich Holger Trocha getroffen und der Radiomann und Filmemacher weiß bemerkenswertes zu berichten.
Kreuze, Halbmonde und andere religiöse Symbole schmücken die verschiedenfarbigen Kuppeln und spitzen Türmchen. Abgerundet wird das wunderliche Erscheinungsbild des Bauwerks durch bunte Fenster und farbenfrohe Mosaike. Es handelt sich um den Tempel aller Religionen in Staroje Araktschino, einem Vorort von Kasan, der Hauptstadt Tatarstans.
Ein geweihter Ort also? Ein Platz für Gottesdienst, Predigt und Gebete? Keineswegs. Tatsächlich ist dieser “Tempel” gar keine sakrale Stätte. Er ist ein Kunstwerk, eine große Skulptur. Klar, dass so ein farbenfrohes Objekt auch die Besucher der Region anzieht, es ist eine Touristenattraktion. Der auffällige Komplex gehört zu den Sehenswürdigkeiten der Republik. Nur als Studienobjekt zum Thema Religionsvielfalt in Tatarstan will das architektonische Projekt dann doch nicht so recht taugen.
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Tatarstans turbulente Vergangenheit
Tatarstan ist ein Land mit einer langen und wechselvollen Geschichte. Bereits 922 n. Chr., also vor mehr als tausend Jahren und kurz nach der ersten Staatsgründung durch die Wolgabulgaren, wurde der Islam zur Staatsreligion erklärt. Langwierige kriegerische Auseinandersetzungen folgten. Zunächst verleibte die Goldene Horde, die Nachfolger des legendären Dschingis Khan, die Region dem Mongolenreich ein und im 16. Jahrhundert wurde sie schließlich von Iwan dem Schrecklichen erobert.
Taugt eine solch wilde, kriegerische Historie als Basis für ein friedliches Miteinander unterschiedlicher Kulturen? Wie steht es um Glaube und Gewalt in einem Land, in dem Orient und Okzident aufeinandertreffen, Islam und Christentum quasi Tür an Tür wohnen?
Religion in Tatarstan
Holger Trocha war zeitgleich mit mir in Tatarstan. Und während für mich die Sportstadt Kasan, Sehenswürdigkeiten des Landes sowie die Verprobung kulinarischer Köstlichkeiten auf dem Programm standen, hat sich Holger mit seinem Kameramann dem Thema Religion gewidmet. Ich habe ihn zu den Erkenntnissen befragt.
Holger Trocha hat beim Radio volontiert und anschließend in unterschiedlichen Funktionen für Stationen in ganz Europa gearbeitet. Nachdem er seine Liebe für bewegte Bilder entdeckte, hat er Beiträge für verschiedene Fernsehsender, unter anderem ZDF, BBC und CNN, erstellt. Die Palette reicht von Werbespots über Imagefilme bis hin zu Spielfilmen. Lange Zeit hat er die Unternehmenskommunikation des größten Eventfluganbieters in Europa geleitet. Eine Langzeitdokumentation zum Berliner Flughafen BER sowie Imagefilme für Germanwings und visitBerlin gehören außerdem zu seinen Referenzen. Inzwischen arbeitet er als Regisseur, Produzent und Autor und moderiert nebenher bei RTL und Deutschlandradio.
Holger, Du hast Dich mit der religiösen Situation in Tatarstan befasst. Warum?
Auf das Thema bin ich im letzten Jahr aufmerksam geworden. Mir war aufgefallen, dass in Tatarstan die verschiedenen Religionen völlig ohne Vorbehalte miteinander umgehen. Das habe ich so vorher auf der ganzen Welt noch nicht erlebt.
Zum Beispiel wird in Tatarstan fast jede zweite Ehe zwischen Muslimen und orthodoxen Christen geschlossen. In Deutschland und anderswo wäre das undenkbar. Daher sind wir diesem Thema einmal intensiv nachgegangen. Wir haben sowohl an einer Universität als auch in Familien gedreht, also genau dort, wo es um das tägliche Zusammenleben geht.
Außerdem haben wir Ilfar Khasanov, den Imam der Kul-Scharif-Moschee in Kasan, und Konstantin Kolyganov, den Vikar der dortigen Kirche, zum Interview getroffen. Die beiden sind Freunde und leben den Religionsfrieden. So wie überall im Land.
Freundschaft über Religionsgrenzen hinweg
Was waren die Highlights beim Drehen?
Es gab bei dem Dreh sehr bewegende Momente und glaub mir, das ist bei erfahrenen TV- und Radiojournalisten schon etwas Besonderes. Wir haben den Imam und den Vikar in einem Hotel mit Blick auf den Kreml interviewt. Begegnet bin ich ihnen in der Hotellobby, das war ein Moment, der mir sehr nahe gegangen ist. Die beiden haben nicht nur mich zur Begrüßung herzlich umarmt, sondern sich auch gegenseitig in den Arm genommen. Da war nichts Aufgesetztes oder Gespieltes dabei, diese Toleranz ist echt!
Einen zweiten beeindruckenden Moment gab es in der Uni. Wir sind in ganz normale Vorlesungen gegangen und dort einer Vielzahl von Menschen aus unterschiedlichen Ländern und verschiedenen Religionen begegnet. Alle haben mir erzählt, dass sie diesen ganz besonderen toleranten Spirit von Tatarstan spüren. Ich glaube, von denen wird keiner mehr dort wegziehen wollen.
Wann und wo kann man den Film sehen?
Die TV-Reportage wird wahrscheinlich im Winter ausgestrahlt. Leider tun sich die Anstalten bei einer freien Produktionsfirma wie mir immer etwas schwer mit konkreten Zusagen. Aber: die ARD will das Thema haben, möchte eine 30-Minuten-Reportage. Und auch der Deutschlandfunk hat das Thema verbindlich bestellt.
Tatarstan, friedlich und multikonfessionell
Migration aus wirtschaftlichen Gründen und Flucht vor Krieg oder Verfolgung: die Welt ist in Bewegung! In diesen unruhigen Zeiten wirkt das multikulturelle Tatarstan wie eine friedliche Oase der Toleranz. Verschont von Extremismus und Fremdenfeindlichkeit trotz des Aufeinandertreffens so unterschiedlicher Kulturen. Die wilde Vergangenheit zu Zeiten von Iwan dem Schrecklichen ist lange passé. Doch auch in Russland nehmen Spannungen zwischen Muslimen und Christen in den letzten Jahren zu, wie ZEIT ONLINE weiß. Die spannende Frage also: wird Tatarstan sich seine harmonische Sonderstellung, jenseits von Aggressivität und Fundalismus, auch künftig bewahren können?
Religion in Tatarstan: hörenswert
Deutschlandfunk Kultur, Podcast von Holger Trocha: Religionsfrieden in Tatarstan
Hinweis: meine Reise nach Tatarstan erfolgte auf Einladung von Visit Tatarstan.
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