Die HMS Victoria war das Flaggschiff der britischen Mittelmeerflotte, des seinerzeit größten Seegeschwaders der Welt. 1893 ist sie während eines Manövers vor der libanesischen Küste gesunken, 358 von insgesamt 715 Besatzungsmitgliedern des Schlachtschiffes verloren dabei ihr Leben. 111 Jahre war das Wrack anschließend verschollen, in Beirut habe ich den Mann getroffen, der es entdeckt hat und dabei auf ein neues Rätsel gestoßen ist.
Christian Francis ist leidenschaftlicher Taucher. Er selbst bezeichnet sich als Träumer, der hinter allem das Abenteuer sieht. Der Sohn einer Österreicherin und eines Libanesen wurde 1968 in Beirut geboren. Im Rahmen des Blue Bahr Film Festivals in Beirut habe ich ihn getroffen, dort wurde unter anderem ein Kurzfilm über Christian Francis und seine Suche nach der HMS Victoria gezeigt. Einige Wochen später bin ich mit ihm verabredet, um mehr zu erfahren über das Rätsel um das versunkene Schiff. Und über ihn selbst.
Erzähl bitte kurz etwas zu Deiner Person.
Bis 1975 bin ich in Beirut aufgewachsen, habe aber jedes Jahr den Sommer in Österreich verbracht. Bei meinem Großvater, einem Tierarzt. Der hat ständig von früher erzählt, besonders vom Zweiten Weltkrieg. Er war Nazi, so wie viele andere auch. Jeden Sommer musste ich mir das drei Monate lang anhören. Der kam einfach nicht los von dem Thema.
Und dann ist der Krieg ausgebrochen?
Ja, das war 1975. Auf einmal war alles anders. Von 1975 bis 1977 bin ich deswegen in Wien zur Schule gegangen. Wir waren damals richtige Flüchtlinge. Im Sommer 1977 bin ich nach Beirut zurückgekehrt. Wir hatten alle schon geglaubt, dass der Krieg zu Ende ist. Aber tatsächlich sollte das ja noch mehr als 27 Jahre so weitergehen. Es gab zwischendurch nur ein, zwei Jahre ohne Kämpfe oder terroristische Aktionen. Die Schule hatte ich zwar wieder aufgenommen, bin aber zwischendurch erneut oft in Wien gewesen. Dort habe ich 1986 die Matura (österreichischer Ausdruck für Reifeprüfung / Abitur) abgelegt und anschließend von 1987 bis 1991 die Wirtschaftsuniversität besucht. Nach dem ersten Abschluss bin ich mit einem Stipendium an die amerikanische Universität in Kairo gegangen. Nachdem ich 1993 dort meinen MBA Abschluss (Master of Business Administration) gemacht habe, bin ich wieder nach Beirut zurückgekommen.
Wie hat Dich diese Pendelei zwischen den verschiedenen Ländern geprägt?
Ich habe mich zum Weltbürger entwickelt. Ich könnte genau so gut in Tokio, in Miami oder in Wien leben. Das wäre für mich kein Unterschied, denn es hat mich ja nicht nur eine Kultur geprägt. Durch die ganzen Gegensätzlichkeiten, die ich erlebt habe, bin ich in den Besitz eines großes Einfühlungsvermögens gelangt. Und ich bin extrem anpassungsfähig, da ich wegen des Bürgerkriegs 11 verschiedene Schulen und Unis besucht habe.
Und das Tauchen, wann hast Du damit angefangen?
Das war zu der Zeit ja schon mein Hobby. Ich habe während der Sommerferien und des Studiums jede Gelegenheit dafür genutzt. In den Sommerferien täglich ein, zweimal. Und während meiner Zeit in Kairo war ich am Wochenende oft am Roten Meer. 1993, wieder zurück in Beirut, habe ich mein Hobby dann zum Beruf gemacht. Ich habe meinen eigenen Tauchclub gegründet, die Lebanon Divers, mit drei Stationen in Beirut, Jounieh und Tripoli.
Wie bist Du auf die HMS Victoria gekommen?
Als ich in Tripoli nach interessanten Tauchgründen gefragt hatte, haben mich lokale Fischer auf verschiedene Wracks hingewiesen, zum Beispiel ein deutsches U‑Boot und ein französisches Frachtschiff. Ich habe dann weiter nach historischen Schiffen gefragt. Und so bin ich schließlich auf die HMS Victoria gestoßen. Die sei verschollen und die Gewässer seien ohnehin zu tief zum Tauchen. Ich habe dann immer weiter geforscht und noch mehr Leute gefunden, die davon wussten.
Wie ging es weiter?
1996 war ich das erste Mal in London, um im National Maritime Museum in Greenwich nach Spuren zu suchen. Insgesamt viermal war ich da vor Ort, um in historischen Dokumenten zu stöbern. Und es gab tatsächlich ausführliche Aufzeichnungen über die HMS Victoria und ihre Kollision mit einem anderen Schiff der Flotte. Das war für die Briten damals ja eine Katastrophe, die HMS Victoria war schließlich das Admiralsschiff. In nur 13 Minuten war es gesunken. Auch der Kommandeur, Sir George Tryon, hat dabei sein Leben verloren. Ich habe dann nach Daten gesucht, um etwas zur ungefähren Position des Wracks herauszufinden. Aber erst bei meinem vierten Besuch in London habe ich tatsächlich etwas gefunden.
Und dann?
Ich habe eine Zeichnung angefertigt, das Suchgebiet anhand alter Marinekarten mit vier Punkten markiert und mit GPS-Koordinaten gearbeitet. Mittels Sonar gab es auf dieser Basis dann einen bemerkenswerten Fund, und zwar ziemlich genau in der Mitte des Bereichs, wo ich das Wrack ja auch vermutet hatte. Das Echo deutete jedoch auf etwas hin, das aussah wie ein Turm, das war das unglaubliche. Das Schiff hatte sich senkrecht in den Meeresboden gebohrt. Ein Drittel steckt im Schlamm und zwei Drittel sind draußen. Es ist das erste vertikale Wrack der Welt.
Was war das für ein Gefühl?
Nach 8 Jahren Suche war ich total aus dem Häuschen. Von dem Moment hatte ich doch monatelang nur geträumt. Dabei hatten so viele Leute von der HMS Victoria gewusst. Und andere Taucher mit viel mehr Geld hatten es ja auch schon versucht. Aber die sind halt nicht wie ich in London gewesen, meine Leidenschaft und Beharrlichkeit haben sich also ausgezahlt.
Was hast Du dann gemacht?
Durch die senkrechte Lage war das Tauchen deutlich einfacher. Bis zum Meeresboden sind es etwa 140 m, also hätte ich eigentlich etwa 120 m tief tauchen müssen. So haben aber 80–100 m gereicht und das ist ein großer Unterschied für Tieftaucher. Ich habe dann zunächst alles notiert, was zu sehen war und anschließend habe ich drei Tage nur gefilmt.
Wem gehört das Wrack?
Nach internationalem Recht gehört ein Miltär-Wrack immer dem jeweiligen Land, in diesem Fall also den Briten. Aber auch ich als Finder habe bestimmte Rechte. Die Schwierigkeit besteht darin, diese Rechte auch durchzusetzen. Das Problem ist nämlich, dass sich der libanesische Staat nicht so gut in der Materie auskennt.
Was hast du als Finder davon?
Wie gesagt, das Wrack gehört den Briten. Aber ich bin der Agent der britischen Autoritäten in allem, was damit zu tun hat. Vor allem habe ich das Recht, weiter dort zu tauchen. Und ich habe das Nutzrecht, 48 mal war ich inzwischen unten. Viele andere Taucher waren übrigens schon hier, um selbst zu tauchen und Fotos zu machen. Nur können wir wegen der rechtlichen Lage niemanden dorthin lassen, es gibt noch kein grünes Licht. Ich kann also von meinem Recht zurzeit nicht profitieren. Ich könnte das Wrack aber bestimmt noch 20 Jahre betauchen und alle Decks untersuchen, etwa 6.000 qm wären das. Filmen, Katalogisieren, das wäre eine Lebensaufgabe.
Hast Du neben dem Tauchen noch andere Leidenschaften?
Während des Studiums habe ich gerudert, das war aber schon ein recht professionelles Hobby. Ich habe den Libanon sogar bei der Weltmeisterschaft vertreten. Und an den Olympischen Spielen in Barcelona habe ich 1992 teilgenommen. Aber dabei ging es für mich vor allem um den Olympischen Gedanken, also um das Dabeisein. Bei meinen Gegnern handelte es sich um 2‑Meter-Kerle. Gegen die mit einer Masse von 110 kg hatte ich keine Chance, auch wenn ich technisch ziemlich gut war. Aber immerhin war ich im Rudern der erste Araber der modernen olympischen Geschichte und das hat bis heute Bestand. Weitere Leidenschaften sind Skifahren im Mount Lebanon und meine Hunde. Ich habe zwei Samojeden, eine russische Rasse, Laika und Etah. Und Reisen natürlich auch, genau wie Du.
Wo bist Du schon gewesen?
In Japan, Russland, Kuba, Argentinien, Chile, China, Oman, Türkei, Libyen, Nordamerika, Malaysia, Thailand. Im Irak war ich auch schon. Ach, ich war schon viel unterwegs.
Hast Du noch neue Ziele?
Ja, ich möchte gern noch nach Sibirien. Und nach Schwarzafrika, sollte der Ebolavirus irgendwann einmal besiegt sein. Außerdem reizen mich Australien und Zentralamerika.
Was sind Deine Tipps für den Libanon, was sollten sich Besucher anschauen?
Nichttauchern empfehle ich die Palm Islands, 6 km vor Tripoli. Dort gibt es die schönsten Sandstrände im Libanon. Die Altstadt von Tripoli mit ihren Bädern, Souks und Moscheen ist natürlich einen Besuch wert. Dann die Täler des Libanon. Von dort kann man hinauf bis auf 2.000 m Höhe wandern. Das Hippodrom von Tyros sollte man sich auch anschauen. Und den höchsten Berg des Libanon, das Schwarze Horn, Qurnat as-Sauda, empfehle ich. Das ist ja das besondere, man kann in unserem Land an einem Tag im Meer baden und anschließend hinauf in die schneebedeckten Berge fahren.
Und für Taucher?
Die besten Tauchgründe befinden sich bei den Wracks im Norden. Außerdem zu nennen sind die Riffe rund um die Palm Islands. Dazu kommen Enfeh und Chekka im Süden.
Christian Francis hat mir freundlicherweise Fotos aus seinem privaten Bestand zur Verfügung gestellt. Interessenten können Christian Francis über seine Facebook-Page erreichen.
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