Selbst bei vielen Einheimischen ist es nicht bekannt: ein beeindruckendes Freiluftmuseum in Paris. Im 13. Arrondissement verwandeln internationale Street-Art-Künstler komplette Hochhausfassaden in überwältigende Kunstwerke – eine Einladung zu einem urbanen Rundgang abseits der üblichen Touristenpfade.
Paris ist die Stadt der Kunst, die französische Hauptstadt ist bekannt für den Louvre, das Musée d’Orsay und das Centre Pompidou – wer jedoch eine authentische Street-Art-Tour in Paris erleben möchte, findet eines der faszinierendsten Kunstprojekte der Stadt unter freiem Himmel im südlichen 13. Arrondissement. Hier, entlang des Boulevard Vincent Auriol und in den umliegenden Straßen zwischen Place d’Italie und Quai de la Gare, wurde ein prächtiges Projekt umgesetzt: Street Art im XXL-Format. Als ich zufällig die ersten Murals entdecke, komme ich gerade aus Butte aux Cailles, einem Viertel in der Nähe mit bunten Häusern, Kopfsteinpflaster, etlichen netten Bars und Restaurants und noch viel mehr Street Art. Davon gibt es nun in der Nachbarschaft also noch mehr zu entdecken – nur die Dimensionen verschieben sich.

Inhalte
- 1 Kunst statt Beton: Museum unter freiem Himmel
- 2 C215: Meister der Schablonenkunst
- 3 Obeys “Liberté, Égalité, Fraternité”: Mehr als nur ein Motto
- 4 “Evelyn Nesbit”: Feministische Perspektiven von BTOY
- 5 Vhils: Kunst durch Zerstörung
- 6 Seth: Kraft der kindlichen Perspektive
- 7 Conor Harrington: Politische Kämpfe in barockem Gewand
- 8 It’s A Living: Typografische Kunst im Großformat
- 9 Invader: Pixelkunst trifft Popkultur
- 10 Internationale Vielfalt: Weitere Künstler der Open-Air-Galerie
- 11 Entdeckungsreise abseits der Pariser Touristenpfade
- 12 Abschließende Hinweise
Kunst statt Beton: Museum unter freiem Himmel
Rund 30 überdimensionale Murals bekannter Vertreter der globalen Street-Art-Szene verwandeln die sonst eher unscheinbaren Gebäude des Viertels in spektakuläre Leinwände. Treibende Kraft hinter dem ambitionierten Projekt ist Mehdi Ben Cheikh, Gründer der Galerie Itinerrance; er hat es geschafft, namhafte Street-Art-Künstler aus aller Welt für diese urbane Galerie zu gewinnen. Die beeindruckenden Wandbilder erzählen Geschichten von kultureller Identität, gesellschaftlichen Werten und künstlerischen Visionen. Kreative aus Spanien, den USA, der Ukraine, Portugal, Mexiko, Irland und vielen anderen Ländern haben hier ihre jeweils eigene Interpretation urbaner Kunst hinterlassen.

C215: Meister der Schablonenkunst
Der französische Street-Art-Künstler Christian Guémy, bekannt unter dem Pseudonym C215, gilt als einer der renommiertesten Schablonenkünstler der Welt. Sein Werk “Le Chat Bleu” (Die blaue Katze) fällt durch seine intensive Farbgebung und die detailreiche Ausarbeitung auf. C215 ist bekannt für sozialkritische Porträts von Randgruppen, aber auch für poetische Tierdarstellungen, die eine ganz eigene Persönlichkeit ausstrahlen. Seine präzise Schablonentechnik ermöglicht ihm eine erstaunliche Detailtreue, die seine Arbeiten wie Fotografien wirken lassen. Während viele seiner Werke kleiner und eher versteckt in den Straßen von Paris zu finden sind, fügt sich dieses großformatige Katzenmotiv perfekt in die XXL-Galerie des 13. Arrondissements ein.

Die französische Schablonentechnik (Pochoir) hat eine lange Tradition in der Street Art – auch ein bemerkenswertes Beispiel ist Artiste Ouvrier mit seiner filigranen Farbtechnik, die ich in Bangkok entdeckt habe. Seine Werke beeindrucken durch außergewöhnliche Detailtiefe, die er mit nur zwei Schablonen, aber bis zu 48 verschiedenen Farben erzielt. Zurück zum Pariser 13. Arrondissement: Dort findet sich in der Rue Jean-Sébastien Bach noch ein weiteres Werk von C215. Ein ergreifendes schwarz-weißes Porträt einer Mutter mit Kind, deren Kleidung aus dem Wort “Frieden” in verschiedenen Sprachen besteht – eine universelle Botschaft, die das multikulturelle Format dieses Pariser Viertels unterstreicht.
Obeys “Liberté, Égalité, Fraternité”: Mehr als nur ein Motto
Eines der bedeutendsten Werke stammt vom US-amerikanischen Künstler Shepard Fairey, auch bekannt unter dem Pseudonym Obey. Sein gigantisches Wandbild zeigt eine stilisierte Marianne, das Symbol der Französischen Republik – umgeben vom Leitsatz “Liberté, Égalité, Fraternité”. Fairey schuf das Mural als Reaktion auf die Terroranschläge im Bataclan und in anderen Teilen von Paris Ende 2015 – ein Zeichen der Solidarität mit den Pariserinnen und Parisern.

Die Geschichte des Wandbildes nimmt jedoch eine unerwartete Wendung: Im Dezember 2020 modifizieren Aktivisten das Werk, indem sie das Motto durchstreichen und Marianne mit Bluttränen versehen – verbunden mit dem Hashtag #MariannePleure als Protest gegen die wahrgenommene Aushöhlung republikanischer Werte in Frankreich. Fairey reagiert mit Verständnis für den Protest, betont aber, dass sein Werk nie als politisches Statement konzipiert war, sondern als Symbol für Menschenwürde und Solidarität nach den Terroranschlägen.

“Ich stehe auf der Seite der Menschen, die sich gegen Ungerechtigkeit wehren”, erklärt er, “aber ich bin nicht bereit, dieses Symbol aufzugeben.” Als Reaktion erneuert er das Mural und fügt eine Träne hinzu. Zudem veröffentlicht er eine limitierte Druckedition mit dem Zusatz “Taten sind wichtiger als Worte” und spendet alle Einnahmen an die Hilfsorganisation Les Restos du Cœur.

Neben diesem symbolträchtigen Werk hat Fairey noch ein weiteres beeindruckendes Mural im 13. Arrondissement hinterlassen: “Rise Above Rebel”, ein 40 Meter hohes Porträt in seinen charakteristischen Rot-Schwarz-Tönen an der Ecke Boulevard Vincent Auriol und Rue Jeanne d’Arc. Dieses bereits 2012 entstandene Werk ist eine seiner ersten monumentalen Arbeiten in Paris und ruft dazu auf, sich über gesellschaftliche Einschränkungen und den allgegenwärtigen Einfluss der Werbung zu erheben.
“Evelyn Nesbit”: Feministische Perspektiven von BTOY
Ein anderes faszinierendes Werk ist das Porträt von Evelyn Nesbit, geschaffen von der spanischen Künstlerin Andrea Michaelsson, besser bekannt als BTOY. Ihre Arbeit zeichnet sich durch starke weibliche Figuren aus, oft inspiriert von Ikonen vergangener Epochen. Evelyn Nesbit, ein amerikanisches Model und Showgirl aus dem frühen 20. Jahrhundert, wird hier in leuchtenden Blau- und Rottönen dargestellt, die Haare mit farbenfrohen, kaleidoskopartigen Mustern versehen.

BTOY transformiert mit ihrer Kunst oft historische Frauenbilder und stellt sie in einen modernen Kontext, der zum Nachdenken über Geschlechterrollen und ‑darstellungen anregt.
Vhils: Kunst durch Zerstörung
Einen völlig anderen Ansatz verfolgt der portugiesische Künstler Alexandre Farto, bekannt als Vhils. Anstatt Farbe auf die Wand aufzutragen, trägt er Material ab. Mit Hammer, Meißel und manchmal sogar kontrollierten Explosionen schafft er beeindruckende Porträts, indem er Schichten der Wand freilegt.

Sein 2012 in Paris geschaffenes Werk zeigt ein Gesicht, das förmlich aus der Fassade herauszubrechen scheint. Die einzigartige Technik spielt mit Licht und Schatten und erzeugt eine faszinierende Tiefenwirkung, die das Mural je nach Tageszeit und Lichteinfall verändert erscheinen lässt. Vhils’ markante “Archäologie des Urbanen” konnte ich zuletzt auch beim Cor de Chelas Festival in Lissabon entdecken, wo der Künstler ebenfalls mit einem typischen Beitrag beteiligt ist.
Seth: Kraft der kindlichen Perspektive
Der französische Künstler Julien Malland, bekannt als Seth, hat eines der poetischsten Werke der Sammlung geschaffen. Es zeigt einen Jungen von hinten, der vor einem regenbogenfarbenen Gebäude steht. Das Besondere: Das Mural ist als Anamorphose konzipiert, eine optische Illusion, die nur aus einem bestimmten Blickwinkel vollständig zur Geltung kommt. Seth ist bekannt für die Darstellung von Kindern, die er auf seinen Reisen um die Welt auf unterschiedlichste Wände malt. Seine Figuren verbinden oft verschiedene Kulturen und laden den Betrachter ein, die Welt mit den Augen eines Kindes zu sehen – voller Wunder, Neugier und ohne Vorurteile.

Conor Harrington: Politische Kämpfe in barockem Gewand
Der irische Künstler Conor Harrington verbindet in seinem Werk “Etreinte et Lutte” (Umarmung und Kampf) klassische Malerei mit moderner Street Art. Auf den ersten Blick scheint das Bild eine Umarmung zweier Männer in historischen Kostümen zu zeigen – doch tatsächlich handelt es sich um die Darstellung eines politischen Ringens.

Harrington schuf das Werk 2017 vor dem Hintergrund der anstehenden französischen Präsidentschaftswahlen. Mit seiner bewusst mehrdeutigen Darstellung zeigt er, dass in der Politik jede Geschichte zwei Seiten hat. Er arbeitet mit einer Ästhetik, die an barocke Gemälde erinnert, dabei jedoch zeitgenössische gesellschaftspolitische Themen vermittelt.
It’s A Living: Typografische Kunst im Großformat
Ein völlig anderer Ansatz zeigt sich im Werk von Ricardo Gonzalez, bekannt als It’s A Living. Sein gigantisches Mural “To Live And Love” bedeckt 14 Stockwerke eines Hochhauses und besteht aus farbenfroher, dynamischer Kalligrafie. Der mexikanische Künstler, der seine Karriere als Grafiker begann, hat sich auf handgeschriebene Typografie spezialisiert. Seine fließenden, lebendigen Schriftzüge vermitteln nicht nur Worte, sondern auch Emotionen und verwandeln alltägliche Ausdrücke in visuelle Kunstwerke. Das Pariser Mural ist gemäß Aussage von 2022 sein bis dahin größtes Werk.

Invader: Pixelkunst trifft Popkultur
Eine ganz andere Ästhetik bringt der französische Künstler Invader ins Spiel. Mit seinem an Videospiele der 1980er Jahre erinnernden Pixelstil hat er sich weltweit einen Namen gemacht. Sein Werk an der Fassade des Krankenhauses Pitié-Salpêtrière ist besonders witzig: Es zeigt den fiktiven Arzt Dr. House aus der gleichnamigen TV-Serie in einer Pixel-Art-Darstellung – eine clevere und humorvolle Referenz zum Standort des Werks. Die Arbeiten von Invader, der seine Identität hinter einem Pseudonym verbirgt, sind typischerweise kleine Mosaike, die weltweit – mehr oder weniger unauffällig – in Städten “invadieren”. Diese großformatige Version ist eine Ausnahme und markiert seine erste echte Wandmalerei in Paris.

Keine Frage, das Street-Art-Projekt im 13. Arrondissement ist weit mehr als eine Verschönerungsmaßnahme für ein weniger touristisches Viertel. Es ist ein Zeugnis für die Kraft der Kunst im öffentlichen Raum, für kulturellen Austausch und für die Fähigkeit, urbane Landschaften in Kommunikationsflächen zu verwandeln.
Internationale Vielfalt: Weitere Künstler der Open-Air-Galerie
Die künstlerische Bandbreite dieser internationalen Open-Air-Galerie wird auch deutlich am Werk des chilenischen Künstlers INTI, der 2016 mit “La Madre Secular 2” eine säkulare Version der Madonna schuf, die statt religiöser Symbole Zeichen der Wissenschaft und des Skeptizismus trägt: In ihrer Hand hält sie den Apfel Newtons, während ihr Hals und ihre Handschuhe mit kosmischen Symbolen verziert sind. Das Werk ist Teil einer Trilogie, die sich über Marseille, Paris und Lissabon erstreckt.

Der britische Künstler Hush bereichert die Open-Air-Galerie mit seinem faszinierenden Frauenporträt, das östliche und westliche Kunsttraditionen vereint. Sein Stil kombiniert traditionelle asiatische Ästhetik mit Elementen der westlichen Pop Art und des Action Painting. Die markanten roten Lippen und die geschlossenen Augen der dargestellten Frau werden durch geometrische Muster und leuchtende Farbkontraste in ihrer Kleidung ergänzt – ein visuell reiches Werk, das Hushs kulturübergreifenden künstlerischen Ansatz widerspiegelt.

Mit einer kraftvollen Botschaft zur Situation in seiner Heimat trägt auch der ukrainische Künstler Volodymyr Manzhos, bekannt als Waone (Teil des Duos Interesni Kazki), zur Vielfalt des urbanen Museums bei. Seine symbolreiche Darstellung eines Mannes, der mit einem Globus interagiert, verbindet folkloristische Elemente mit modernem Surrealismus. Die bunten Buchstaben am Bildrand formen das ukrainische Wort für “Sieg” (перемога) und setzen ein Zeichen für Frieden und Verständigung im Kontext des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine.

Nicht weniger beeindruckend ist Jorge Rodriguez-Geradas fotorealistisches Porträt von Philippe Pinel, dem “Vater der modernen Psychiatrie” – das Werk ist passenderweise an der nach Pinel benannten Straße zu finden. Beau Stanton wiederum reagiert mit seinem Werk “Canicule” (Hitzewelle) künstlerisch auf die teilweise extremen Temperaturen der letzten Jahre: Sonnenblumen und ein blaues, schmelzend wirkendes Gesicht prägen seine Komposition.

Entdeckungsreise abseits der Pariser Touristenpfade
Die durchdachte Platzierung sämtlicher Werke – oft mit direktem Bezug zu ihrem Standort oder aktuellen gesellschaftlichen Themen – macht die Erkundung der Open-Air-Galerie zu einer vielschichtigen Erfahrung, die weit über die bloße Betrachtung hinausgeht. Für Besucher, die das “andere Paris” kennenlernen möchten, bietet eine Street-Art-Tour im 13. Arrondissement daher eine willkommene Alternative zu den überlaufenen Sehenswürdigkeiten der französischen Metropole.

Die Entdeckung der Murals wird regelrecht zur Schatzsuche, bei der immer wieder überraschende neue Kunstwerke zwischen den Häuserblocks aufgespürt werden. Es lohnt sich, auch in Seitenstraßen abzubiegen und vor allem den Blick regelmäßig nach oben zu richten – befinden sich die meisten Werke doch in luftiger Höhe. Und: Es empfiehlt sich, etwas Zeit mitzubringen. Ich selbst habe nämlich nur etwa die Hälfte der Kunstwerke auf meiner Tour entdeckt; die schreit daher nach Wiederholung, um auch den Rest des Open-Air-Museums ausfindig zu machen. Irgendwann jedenfalls, denn diesmal ist nicht genug Zeit – Paris ist groß und es gibt einfach zu viel zu unternehmen.
Abschließende Hinweise
Tipps und weiterführende Quellen
Anreise und Route:
- Metro: Place d’Italie (Linien 5, 6, 7) oder Nationale (Linie 6)
- Empfohlene Route: Von Place d’Italie dem Boulevard Vincent Auriol in Richtung Seine folgen
- Alternative: Fahrt mit der Metrolinie 6 (Hochbahn entlang des Boulevard Vincent Auriol) für einen ersten Überblick
Zeitbedarf: 2–3 Stunden, je nach Erkundungsumfang der Seitenstraßen
Insider-Tipp: Kombination des Besuchs mit einem Abstecher ins benachbarte Viertel Butte aux Cailles – dort sind weitere Street-Art-Werke zu finden, vorwiegend in kleineren Formaten, außerdem dörflicher Charme mit Kopfsteinpflaster, bunten Häusern und gemütlichen Cafés.
Weiterführende Links:
- Instagram-Account und Facebook-Seite der Galerie Itinerrance, Initiator des Street-Art-Projekts, mit aktuellen Kunstausstellungen und ‑projekten
- Street Art 13 mit spezifischen Informationen zu urbanen Kunstinitiativen im 13. Arrondissement und darüber hinaus
- Offizielle Tourismusseite von Paris für allgemeine Stadtinformationen
In eigener Sache
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Wow, bin wirklich begeistert, das ist mal ne richtig tolle Sammlung von beeindruckender Street-Art mit tollen Fotos! Muss ich mir unbedingt bookmarken und die Tour mal nachlaufen, wenn ich wieder in Paris bin. In anderen Städten wie London gibt’s ja auch viel zu sehen, an Paris hab ich bislang gar nicht so gedacht.
Dieses anamorphe Kindermotiv von Seth und das riesige von Invader (den kenn ich als er mal München unsicher gemacht hat) muss ich unbedingt mal in echt sehen.
Richtig toller Artikel und danke für die Routentipps am Ende!
Merci et bon voyage !