Das Festival Cor de Chelas verwandelt ein vernachlässigtes Industrieviertel Lissabons in eine pulsierende Freiluftgalerie. Internationale Künstler und lokale Talente gestalten Fassaden und Industriewände mit beeindruckenden Murals – eine künstlerische Rebellion gegen städtischen Verfall. Zweifellos zählt Chelas zu den Street-Art-Hotspots der portugiesischen Hauptstadt.
In einem rauen, oft übersehenen Gewerbegebiet am östlichen Rand Lissabons findet jährlich eine bemerkenswerte Umgestaltung statt. Das Cor de Chelas Festival haucht grauen Fassaden und verlassenen Fabrikwänden neues Leben ein, es verwandelt sie in ein Open-Air-Museum zeitgenössischer Kunst. Was im Jahr 2014 als kleine Initiative lokaler Künstler begann, hat sich zu einem Fixpunkt in Lissabons vielfältigem Street-Art-Kosmos entwickelt – und zu einem Symbol für die Kraft urbaner Kunst.

Mächtig Schub erhält das Festival im Jahr 2024 durch den unvergleichlichen Artur Bordalo. Der nämlich fungiert als Kurator und lädt seine Street-Art-Freunde dazu ein, den Stadtteil gemeinsam zu gestalten. So verwandeln renommierte Künstler wie Vhils, Okuda, Daniela Guerreiro, Ricardo Romero und Kampus die Estrada de Chelas endgültig in eine eindrucksvolle Open-Air-Galerie, von Einheimischen liebevoll auch als “Bordalo Park” bezeichnet.

Inhalte
- 1 Schachzug der Kunst: Eric Ventkers Beitrag
- 2 Ein Viertel im Wandel
- 3 Lissabon: Eine Hauptstadt der urbanen Kunst
- 4 Die fantastische Formenwelt von Chelas
- 5 Kunst als sozialer Katalysator
- 6 Die vielen Gesichter des Festivals
- 7 Dialog mit der Geschichte
- 8 Fauna und Fantasie
- 9 Künstlerische Kollaborationen
- 10 Die kaleidoskopische Welt von Cor de Chelas
- 11 Praktische Hinweise für Besucher
- 12 Fazit: Eine Entdeckung für Liebhaber urbaner Kunst
- 13 Abschließende Hinweise
Schachzug der Kunst: Eric Ventkers Beitrag
Jährlich bringt das Street-Art-Festival in Chelas dutzende neuer Wandbilder hervor. Das ausdrucksstarke Mural mit dem Titel “Chessmate” von Eric Ventker, Pseudonym “Eric Ve”, zeigt exemplarisch die künstlerische Qualität der Werke. Der Absolvent der Kunstakademie Düsseldorf lebt und arbeitet bereits seit 2020 in Portugal; mit seinen figurativen Werken hat er sich einen Namen in der Szene gemacht. Sein Stil zeichnet sich durch subtile Alltagsszenen und präzise Detailarbeit aus. Schon der Vater, der bekannte Solinger Künstler Andre Peer, ist ein Geschichtenerzähler – einer, der mit Farbe und Pinsel spricht.

Ein Viertel im Wandel
Die Estrada de Chelas, geprägt von Industriebauten und städtischem Verfall, erlebt durch das Festival eine kreative Wiedergeburt. Wo früher Beton und verblasste Fassaden das Stadtbild dominierten, blüht heute lebhaft kolorierte Street Art. Der portugiesische Künstler Dario Silva steuert mit einem cartoonartigen Hundemotiv einen gezielten Kontrast zur traditionellen Architektur bei. Ein Zusammenspiel von Alt und Neu, von Geschichte und zeitgenössischem Ausdruck, das charakteristisch ist für das Viertel und das Festival selbst.

Lissabon: Eine Hauptstadt der urbanen Kunst
Das Cor de Chelas Festival steht beispielhaft für die außergewöhnliche Beziehung der portugiesischen Hauptstadt zur Street-Art-Kultur. Viele weitere Projekte machen Lissabon zu einer der führenden Metropolen für Street Art in Europa. Zu den bekanntesten Hotspots urbaner Kunst zählen die historische Alfama, die lebendige LX Factory in Alcântara sowie die Open-Air-Galerien in Mouraria und Bairro Alto. Weitere spannende Orte, schon eher etwas für Insider, sind Bairro Padre Cruz oder das Viertel Ajuda.

Im Gegensatz zu anderen Hauptstädten hat Lissabon eine bemerkenswert progressive Haltung gegenüber urbaner Kunst entwickelt. Eine Offenheit, die auch in Portugals Nelkenrevolution von 1974 wurzelt, als politische Murals zu wichtigen Ausdrucksformen demokratischer Freiheit wurden. Um das Thema Freiheit geht es auch in dem Wandbild mit dem Titel “Inner Feeling”. Es stammt vom brasilianischen Künstler Afonsoul, der ebenfalls in Portugal lebt und arbeitet. Afonsoul verbindet in seinen Arbeiten oft realistische Porträts mit Elementen aus der Natur und schafft so einen Dialog zwischen urbaner Umgebung und natürlichen Formen. Hier dienen ihm Vögel als Freiheitssymbol.

Die fantastische Formenwelt von Chelas
Im Vergleich zu anderen Street-Art-Hotspots in Lissabon hat Chelas einen ganz speziellen Charakter: Anders als die touristisch beliebten Viertel wie Cais do Sodré oder die offiziell geförderte “Galeria de Arte Urbana” bewahrt Chelas einen authentischen, von der Gemeinschaft getragenen Geist. Gerade diese Unabhängigkeit macht das Viertel zu einem besonderen Teil der lebendigen Street-Art-Szene der Hauptstadt und unterscheidet es von den kommerzielleren Ansätzen, die man auch in anderen Städten teilweise findet.

Das surreale Werk auf einem Rolltor ist eine Gemeinschaftsproduktion. Auch Gnomo aus Brasilien, der sich selbst als “Psychedelic Independent Artist” bezeichnet, arbeitet heute in Lissabon, während sein Partner Rizo in seiner brasilianischen Heimatstadt als “Chamäleon von Florianópolis” bekannt ist. Das Fantasiewesen auf dem Tor zeigt exemplarisch, wie in Chelas auch funktionale Elemente der Stadtarchitektur zur künstlerischen Leinwand umfunktioniert werden.

Kunst als sozialer Katalysator
Internationale Künstler und lokale Talente – Cor de Chelas schafft eine einzigartige Plattform für produktiven Austausch. Die Geschichte des Viertels, von seiner industriellen Vergangenheit bis zu gegenwärtigen sozialen Herausforderungen, spiegelt sich in manchen der entstehenden Kunstwerken wider. Etwa bei dem monochromen Mural des Colectivo “Explicit Citizens”, einem Künstlerduo, bestehend aus den portugiesischen Freunden João und David. Seit der Gründung im Jahr 2017 haben die beiden einen charakteristischen Stil entwickelt, der figurative und abstrakte Malerei verbindet. In ihren Werken porträtieren sie Menschen in ihrem Alltag sowie deren Herkunft, Werte und Traditionen – ein Ansatz, der sich perfekt mit der Mission des Street-Art-Festivals in Chelas deckt.

Die vielen Gesichter des Festivals
Auffällig in Chelas sind die Kontraste zwischen den verschiedenen Street-Art-Stilen. Während einige Künstler auf ausgefeilte Murals setzen, nutzen andere die Spontaneität und Direktheit traditioneller Graffiti Styles. Der blau-violette Tierkopf mit markanten Zähnen, der an einem der Gebäude prangt, ist ein Beispiel für einen typischen cartoon-artigen Charakter. Das Werk verkörpert den ursprünglichen, rebellischen Geist von Graffiti; die bunte Gestaltung des Hauses zeigt gleichzeitig, wie umfassend das Viertel durch das Festival verändert wird.

Von realistischen Porträts bis zu abstrakten oder stark stilisierten Darstellungen – Cor de Chelas bietet Raum für die unterschiedlichsten Ausdrucksformen. Der Künstler Enivo kombiniert in seinem Werk leuchtende Farben mit afrikanisch inspirierten Mustern und Symbolen, es entsteht eine farbenprächtige, maskentragende Figur – ein weiteres Beispiel für die thematische und stilistische Vielfalt der Kunstwerke in Chelas. Es ist nicht das einzige Werk, das Enivo beisteuert, was im Folgenden bereits deutlich wird.

Dialog mit der Geschichte
Einige der beeindruckendsten Werke in Chelas setzen sich mit der Geschichte und der kollektiven Erinnerung auseinander. Sie schaffen visuelle Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Ricardo Romero begann 1994, sich die Techniken der Wandmalerei zu erschließen. Seitdem hat sich der Autodidakt neben seiner eigenen künstlerischen Praxis einen Namen als Kurator und Gründer zahlreicher Projekte gemacht, darunter etliche renommierte Street-Art-Festivals in verschiedenen Städten Portugals.

Sein Schwarz-Weiß-Mural reproduziert ein historisches Foto des US-amerikanischen Fotografen Lewis Hine aus dem Jahr 1918, das die Arbeit des Roten Kreuzes dokumentiert. Romeros Resümee: “Es ist erschreckend zu sehen, wie sich Geschichte nach mehr als 100 Jahren wiederholt. Nach wie vor werden Regionen mit Krieg überzogen, der Flüchtlinge hervorbringt – Menschen, die nirgendwo einen Platz finden.”

Fauna und Fantasie
Tiermotive spielen eine wichtige Rolle in der visuellen Sprache des Festivals. Das Mural “Cherry Mouse” stammt vom portugiesischen Street-Art-Künstler Bordalo II, dessen bürgerlicher Name Artur Bordalo lautet. Bordalo, seine Rolle als Kurator des Festivals wurde bereits angesprochen, hat internationale Anerkennung für seine charakteristischen “Trash Animals” erlangt – großformatige Tierskulpturen, die er aus Müll und Abfallmaterialien erschafft. Seine Kunst verbindet umweltpolitischen Aktivismus mit Street Art, indem er genau die Materialien verwendet, die die Umwelt verschmutzen und Tiere bedrohen.

Künstlerische Kollaborationen
Ein Highlight des Festivals sind die kreativen Gemeinschaftsprojekte, bei denen durch die Kombination unterschiedlicher Stile ganz neue Bildsprachen entstehen. Ein herausragendes Beispiel dafür ist die Zusammenarbeit zwischen Bordalo II und dem ebenfalls international renommierten portugiesischen Künstler Alexandre Farto, besser bekannt als Vhils. Diese Kollaboration verbindet zwei völlig unterschiedliche Techniken: Vhils schafft seine Kunstwerke, indem er Material von der Wand entfernt – er meißelt oder fräst und manchmal sprengt er sogar, getreu seinem Motto “Ich zerstöre, um etwas zu kreieren”. Bordalo II hingegen baut seine Kunst durch das Hinzufügen und Zusammensetzen verschiedener Materialien auf.

Besonders interessant: Die Motivwahl ist keineswegs zufällig. Das Mural wurde als Hommage an Charles Darwins Evolutionstheorie konzipiert und soll auf die Problematik der Umweltzerstörung durch menschliches Handeln aufmerksam machen. Die linke, von Vhils gestaltete Seite zeigt ein Porträt von Darwin selbst, das mittels Schichtabtragung der Wandoberfläche freigelegt wurde. Die rechte Seite, gestaltet von Bordalo II, zeigt einen Affen, dargestellt mit seiner charakteristischen Technik der Verwendung von Abfallmaterialien. Das Nebeneinander dieser gegensätzlichen Ansätze – Wegnehmen versus Hinzufügen, Mensch versus Tier, Theorie versus Realität – erzeugt ein spannendes Kunstwerk, das nicht nur die Bandbreite zeitgenössischer Street Art zeigt, sondern auch eine tiefgründige Botschaft über unsere Beziehung zur Natur und die evolutionäre Verantwortung übermittelt.

Die kaleidoskopische Welt von Cor de Chelas
Die stilistische Vielfalt des Cor de Chelas Festivals ist enorm und reicht weit über großformatige Murals hinaus. Die Bandbreite an Styles und Techniken reicht von Comic-Ästhetik bis zu surrealen Fantasiewelten, Ergebnis ist eine farbenprächtige Sammlung von Charakteren, sie repräsentieren die lebendige Graffiti-Kultur, die in Chelas neben detailgetreu ausgearbeiteten Murals gedeiht. Auch spontanere, spielerische und experimentelle Ausdrucksformen haben ihren Platz in der künstlerischen Sprache des Viertels.

Praktische Hinweise für Besucher
Die Estrada de Chelas ist ein lohnendes Ziel für alle, die urbane Kunst in einem authentischen Umfeld erleben möchten. Am besten lässt sich die Gegend zu Fuß erkunden; ein Besuch ist außerdem gut mit einer Tour durch andere kreative Viertel wie Marvila zu verbinden, wo sich handwerkliche Brauereien und Galerien angesiedelt haben.

Ich selbst habe den Fehler gemacht, von der Metro-Station Chelas zu starten und gelernt, dass sich in der dortigen Umgebung ein neuerer Teil des Viertels befindet. Der ältere Teil inklusive Gewerbegebiet und Estrada de Chelas hingegen ist noch ein paar Kilometer entfernt. Konkrete Informationen zur Anreise, um ein solches Missverständnis zu vermeiden, finden sich im abschließenden Info-Teil.

Fazit: Eine Entdeckung für Liebhaber urbaner Kunst
Das Cor de Chelas Festival zeigt eindrucksvoll, wie Street Art einen ganzen Stadtteil verändern kann. Als wichtiger Teil der bunten und lebendigen Kunstszene Lissabons steht es für Unabhängigkeit und Kreativität – Merkmale, die die Stadt zu einem Anziehungspunkt für Street-Art-Fans aus der ganzen Welt machen.

Für Besucher, die das kreative Lissabon jenseits der bekannten Touristenattraktionen erleben möchten, ist diese bunte urbane Leinwand ein echter Geheimtipp. Hier wird Kunst nicht nur betrachtet, sondern gelebt. Chelas gehört daher unbedingt auf die Liste aller Entdecker, die Lissabons Street-Art-Landschaft erkunden wollen. Es ist ein charakteristischer und authentischer Ort in einer Stadt, die sich längst etabliert hat als eine von Europas Hauptstädten für urbane Kunst.
Abschließende Hinweise
Tipps und weiterführende Quellen
Wer das Cor de Chelas Festival und Lissabons Street-Art-Szene erkunden möchte: Besonders interessant ist ein Besuch sicher während des jährlichen Events, das typischerweise im Spätsommer stattfindet. Die permanenten Kunstwerke können jedoch das ganze Jahr über besichtigt werden. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist das Viertel gut erreichbar, ein sinnvoller Startpunkt wäre die Haltestelle Xabregas (für die Rückfahrt von dort zum zentralen Cais do Sodré habe ich die Buslinie 728 gewählt, was natürlich auch umgekehrt funktioniert).
Für mehr Informationen über das Festival und aktuelle Entwicklungen empfehle ich den Instagram-Account des Cor de Chelas Festivals, wo neue Werke und Künstler vorgestellt werden. Kurator Bordalo II teilt auf seinem Instagram-Profil Einblicke in seine Arbeit und das Festival.
Die offizielle Tourismusseite Lissabons bietet allgemeine Informationen zur Stadt, während die Galeria de Arte Urbana (GAU) über die städtischen Street-Art-Initiativen informiert. Underdogs, mitbegründet von Alexandre Farto (Vhils), ist eine bedeutende Plattform für urbane Kunst in Lissabon, unter anderem mit Galerie-Ausstellungen und öffentlichen Kunstprojekten.
Tipp: Ein Besuch in Chelas lässt sich gut mit einem Abstecher ins benachbarte Viertel Marvila kombinieren, wo weitere Street-Art-Werke zu entdecken sind. Zudem wurden dort Lagerhäuser in kulturelle Projekte und gastronomische Einrichtungen umgewandelt.
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