Varanasi. Inderinnen beim morgendlichen Gebet am Ganges.
Indien

Indien! Kultur, Klischees & heilige Kühe

Wor­an denkt man bei Indi­en zuerst? An Bol­ly­wood und bun­te Gewän­der? An Taj Mahal und Yoga? Oder sind Armut, Slums und Gewalt gegen­über Frau­en eher typisch indisch? Auch die hei­li­gen Kühe sind sicher ganz weit vorn. Ein Streif­zug durch indi­sche Kli­schees, bei dem es nicht nur um die ver­meint­lich unan­tast­ba­ren Tie­re geht, denn dazu ist das The­ma Kul­tur in Indi­en zu bunt und vielfältig.

Drei Mona­te dau­ert mei­ne Rei­se durch Indi­en und vie­len Kli­schees soll­te ich unter­wegs begeg­nen. Aber zunächst beginnt alles mit einem Zwi­schen­stopp in Delhi: Zeit für ein paar Stun­den Schlaf, außer­dem will ich wenigs­tens ein wenig von der Stadt sehen, denn mög­li­cher­wei­se wer­de ich ja nie wie­der hier­her zurückkehren.

Kultur und Klischees in Indien: Vollbeladener LKW
Typisch indisch? Voll­be­la­de­ner LKW in Chhattisgarh

Ein Taxi bringt mich zum Qutb-Kom­plex. Dem Fah­rer hat­te ich freie Hand gelas­sen, wohin es geht. Denn schließ­lich weiß ich ja kaum etwas von der indi­schen Hauptstadt.

Auch der Islam gehört zu Indien

Der Qutb-Kom­plex ist Teil des Welt­kul­tur­er­bes, hier befin­den sich die Rui­nen der ers­ten Moschee auf indi­schem Boden. Sie stam­men aus einer ande­ren Zeit, vom Ende des 12. Jahr­hun­derts, Delhi war gera­de von mus­li­mi­schen Inva­so­ren ein­ge­nom­men wor­den. Und auch der Qutb Minar, eine mitt­ler­wei­le etwas schie­fe Sie­ges­säu­le, steht hier. Er ist eines der höchs­ten Bau­wer­ke isla­mi­scher Archi­tek­tur über­haupt. Kein Zwei­fel also, auch der Islam gehört zu Indi­en. Mus­li­me bil­den heu­te die größ­te reli­giö­se Min­der­heit im Land der Hin­dus. Eine “Min­der­heit”, die jedoch unglaub­li­che 170 Mil­lio­nen Men­schen umfasst, mehr als die meis­ten isla­mi­schen Staa­ten Ein­woh­ner zäh­len. Eine kul­tu­rel­le Beson­der­heit, die woan­ders als in Indi­en, dem siebt­größ­ten Land der Erde, kaum vor­stell­bar wäre.

Indiens Kultur und Klischees, Qutb Minar in Delhi
Qutb Minar: Wach­turm, Sie­ges­säu­le und Wahr­zei­chen von Delhi

Auf dem Weg zurück zum Indi­ra Gan­dhi Inter­na­tio­nal Air­port quält sich das Taxi durch den zäh­flüs­si­gen Ver­kehr. Kühe kreu­zen die Fahr­bahn. Unbe­ein­druckt vom Ver­kehrs­chaos läuft eine Her­de zwi­schen den Autos umher. Das Kli­schee lebt. Will­kom­men in Indien!

Fleischloses Indien?

Am Abend lan­de ich in Rai­pur, Haupt­stadt des Bun­des­staa­tes Chhat­tis­garh. Mei­ne Unter­kunft wäh­le ich in der Nähe des Bus­bahn­hofs, denn schon am nächs­ten Mor­gen soll es wei­ter­ge­hen, die Indus­trie­stadt Rai­pur wäre kein guter Start für mei­ne Indi­en­rei­se. Und auch hier am Stra­ßen­rand lie­gen Kühe, ver­fol­gen sto­isch die hek­ti­sche Betrieb­sam­keit des Ver­kehrs­kno­ten­punk­tes. Noch kei­ne 24 Stun­den bin ich im Land, aber die hei­li­gen Tie­re sind bereits fest ver­wur­zelt in mei­nem Bild vom indi­schen Alltag.

Indien Kultur und Klischee, heilige Kuh im Bundesstaat Chhattisgarh
Kühe in Indi­en: all­ge­gen­wär­tig, hier im Bun­des­staat Chhattisgarh

Aus­schließ­lich vege­ta­ri­sche Gerich­te gibt es, erfah­re ich im Restau­rant um die Ecke. Und soll­te spä­ter nach und nach ler­nen, wel­che Bedeu­tung fleisch­lo­se Ernäh­rung in Indi­en hat. An man­chen Orten kann es sogar schwie­rig sein, über­haupt ein Restau­rant mit nicht vege­ta­ri­schen Gerich­ten zu fin­den. Indi­en, ein Mek­ka für Vege­ta­ri­er? Der Vege­ta­ris­mus hat hier jeden­falls eine Jahr­tau­sen­de alte Tra­di­ti­on. Auch Indi­ens legen­dä­rer Frei­heits­kämp­fer Mahat­ma Ghan­di war Vege­ta­ri­er. Sein Cre­do: “Die Grö­ße einer Nati­on und ihr mora­li­scher Fort­schritt las­sen sich dar­an bemes­sen, wie sie mit den Tie­ren umgeht.”

Kultur in Indien, Frauen am Brunnen in Chhattisgarh
Was­ser: Wert­vol­les Gut, muss manch­mal kilo­me­ter­weit geschleppt werden

Schlachtung heiliger Kühe

Die Inder also ein Volk von Vege­ta­ri­ern? Mit­nich­ten. Nach gro­ber Schät­zung bevor­zu­gen zwar 40 Pro­zent der Leu­te fleisch­lo­se Kost, also fast eine hal­be Mil­li­ar­de Men­schen, was für eine Zahl! Aber eben nicht die Mehr­heit. Zudem ist die Ten­denz abneh­mend, ins­be­son­de­re der Mit­tel- und  Ober­schicht gelüs­tet es nach Fleisch, weiß der Deutsch­land­funk zu berich­ten. Von zir­ka 30.000 ille­ga­len Schlacht­hö­fen in Indi­en spricht gar die Frank­fur­ter All­ge­mei­ne. Und gera­de­zu gro­tesk wirkt es, dass Hin­dus, von denen vie­le das Schlach­ten und den Ver­zehr von Tie­ren ableh­nen, mas­sen­haft nach Nepal rei­sen, um dort, im klei­nen Nach­bar­land, dem Töten zu Opfer­zwe­cken bei­zu­woh­nen. Das in meh­re­ren indi­schen Bun­des­staa­ten übri­gens ver­bo­ten ist. Müss­te der gro­ße Gan­dhi sich nicht im Grab umdre­hen ange­sichts die­ser kul­tu­rel­len Dekadenz?

Kultur in Indien: Impressionen vom Bananenmarkt in Madurai
Auf dem Bana­nen­markt in Madurai

“What is your country?”

Der Chi­tra­kot-Was­ser­fall in der Nähe von Jagdal­pur ist der brei­tes­te Was­ser­fall Indi­ens. Eini­ge Inde­rin­nen möch­ten ein gemein­sa­mes Foto mit mir. Ich bin über­rascht. Eigent­lich war ich es, der die Frau­en in ihren bun­ten Saris vor dem Was­ser­fall knip­sen woll­te, nun bin ich selbst Teil des Motivs. Es soll­te nicht das letz­te Mal gewe­sen sein, vie­le Inder sind scharf dar­auf, sich mit Aus­län­dern zusam­men ablich­ten zu las­sen. An die Men­ta­li­tät der Leu­te soll­te man sich ohne­hin schnell gewöh­nen, was bleibt einem auch übrig? Jeder Indi­en­rei­sen­de wird trotz­dem irgend­wann an den Punkt gelan­gen, dass er sie nicht mehr hören kann, die viel­fach gestell­ten neu­gie­ri­gen Fra­gen “what is your coun­try?”, “whe­re are you from?” oder “what is your name?”. Auf­fäl­lig ist auch die indi­sche Vor­lie­be für Sel­fies, an sich nicht unge­wöhn­lich, aber im Ver­gleich zu ande­ren Län­dern erscheint sie doch extrem.

Heilige indische Kühe am Chitrakot-Wasserfall
All­ge­gen­wär­tig: hei­li­ge Kühe, hier am Chitrakot-Wasserfall

Dass sich auch Kühe am Chi­tra­kot-Was­ser­fall bli­cken las­sen, über­rascht kaum noch. Bei­na­he wirkt es, als woll­ten auch die Tie­re für eini­ge Schnapp­schüs­se posieren.

Sonn­tags ist mäch­tig Betrieb in Jagdal­pur, der Haupt­stadt des Distrikts Bastar. Aus den umlie­gen­den Dör­fern kom­men die Leu­te zum Haat, das ist die Bezeich­nung des Han­dels­plat­zes auf dem Gelän­de des San­jay Mar­ket. Den her­um­lau­fen­den Kühen wer­den hier schnell ihre Gren­zen auf­ge­zeigt. Hie­be setzt es, wenn die Vier­bei­ner nach dem kna­ckig-lecke­ren Gemü­se schnap­pen. Auch Gegen­stän­de flie­gen schon mal nach den hei­li­gen Tie­ren, die offen­sicht­lich gar nicht so unan­tast­bar sind.

Indische Klischees: im Müll wühlende Kuh und im Hintergrund der Taj Mahal
Indi­sche Kli­schees: im Müll wüh­len­de Kuh vor der Kulis­se des Taj Mahal

Inder und Alkohol

Zu Besuch bei den Adi­va­si in der Gegend um Jagdal­pur: Mein ein­hei­mi­scher Gui­de Awesh Ali fährt mich jeden Tag mit dem Moped zu den Dör­fern der indi­schen Urein­woh­ner, die offi­zi­ell Tri­bals, also Stam­mes­völ­ker, genannt wer­den. Zufäl­lig gera­ten wir in eine Hoch­zeits­ge­sell­schaft. Die Leu­te haben ordent­lich die Lam­pen an, ins­be­son­de­re der Bräu­ti­gam ist stramm wie eine Nat­ter. Drei Tage geht das Fest, Durch­hal­te­ver­mö­gen ist also ange­sagt. Mit was sich die Leu­te die Kan­te geben? Mahua lau­tet der Name des berau­schen­den Drinks, ein Pro­dukt aus fer­men­tier­ten Blü­ten. Dass ich den pro­bie­re, ver­steht sich. Nur die Ein­la­dung zur Teil­nah­me am Tanz, eher ein Ver­such, mich mit sanf­ter Gewalt in ihre Mit­te zu zer­ren, leh­ne ich ener­gisch ab. Die tan­zen­de, eher schwan­ken­de Hoch­zeits­ge­sell­schaft ist mir zwei Tage vor­aus, was den Alko­hol­pe­gel angeht.

Kultur in Indien, Inderinnen beim Masala Chai trinken
Tee­pau­se: Masa­la Chai, oder ein­fach kurz Chai, wird über­all getrunken

Eini­ge Wochen spä­ter bin ich in Pudu­cher­ry – nach Pon­di­cher­ry, dem bis 2006 gül­ti­gen Namen, lie­be­voll nur Pon­dy genannt. Dort heißt es, indi­sche Hoch­zei­ten lau­fen alko­hol­frei ab. Längst weiß ich es bes­ser, es kann so sein oder anders. Über­haupt ist der Umgang mit Alko­hol in Indi­en höchst unter­schied­lich. In man­chen Bun­des­staa­ten herrscht Alko­hol­ver­bot. In ande­ren hin­ge­gen eine rege Nach­fra­ge in den dor­ti­gen Liqu­or Stores, wo hoch­pro­zen­ti­ge Spi­ri­tuo­sen deut­lich bes­ser lau­fen als Bier.

Kingfisher aus der Teekanne

Anfangs wun­de­re ich mich noch, dass sie King­fi­sher, so der Name der bekann­tes­ten indi­schen Bier­sor­te, in Zei­tungs­pa­pier umwi­ckelt ser­vie­ren. Und den­ke mir, viel­leicht soll es ja der Küh­lung die­nen. Bald ler­ne ich jedoch, dass nicht über­all eine Lizenz zum Aus­schank vor­han­den ist, daher die auf­fäl­lig unauf­fäl­li­ge “Ver­klei­dung”. Kei­ne Lizenz zu haben, bedeu­tet näm­lich nicht, kein Bier besor­gen zu kön­nen. Ganz im Gegen­teil, das funk­tio­niert fast über­all sogar erstaun­lich rei­bungs­los. Das kurio­se High­light: In Kochi rei­chen sie mir das King­fi­sher in einer Tee­kan­ne. Und zwar ziem­lich gut gekühlt.

Kultur in Indien: Gateway of India in Bombay
Spu­ren bri­ti­scher Ver­gan­gen­heit im jet­zi­gen Mum­bai: Gate­way of India

Dharavi, der Vorzeige-Slum

Dha­ra­vi in Bom­bay gilt als größ­ter Slum Asi­ens. Wer aber ver­mag das über­haupt zu beur­tei­len? Schließ­lich ist man sich nicht ein­mal sicher, wie vie­le Leu­te hier tat­säch­lich woh­nen. Die Schät­zun­gen schwan­ken zwi­schen 500.000 und 1 Mil­li­on Men­schen. Man­che Zah­len lie­gen dar­un­ter, ande­re wie­der­um dar­über. Ich will mir selbst ein Bild machen von Dha­ra­vi, dem ver­meint­li­chen Elends­vier­tel in Bom­bay, das inzwi­schen Mum­bai heißt. Ich bin übri­gens nicht der ein­zi­ge, dem der alte Name bes­ser gefällt.

Kultur in Indien: Dharavi, Bombay
Am Rand von Dha­ra­vi, Slum in Bombay

Dha­ra­vi über­rascht. Geschäf­tig geht es zu, es wird recy­celt, geschred­dert, gewa­schen und geschmol­zen. Plas­tik, Papier, Lum­pen und Farb­res­te, alles wird ver­ar­bei­tet. Und das soll ein typi­scher Slum sein? Ich ler­ne, dass Slum hier vor allem eines ist: die Bezeich­nung für ein extrem dicht und ille­gal besie­del­tes Vier­tel. Die Men­schen sind ver­blüf­fend gut orga­ni­siert und eini­ge von ihnen wohl gar nicht so arm, wie man viel­leicht den­ken könn­te. Span­nen­der Stoff für einen Film: Slum­dog Mil­lionaire wur­de mit meh­re­ren Oscars aus­ge­zeich­net, nur die Bewoh­ner von Dha­ra­vi sol­len “not amu­sed” sein über die­se Form öffent­lich­keits­wirk­sa­mer Dar­stel­lung ihrer Hei­mat, heißt es. Zumal ledig­lich ein gerin­ger Teil des Strei­fens direkt vor Ort gedreht wurde.

Kultur in Indien: mit Sari bekleidete Frau beim Baden im Meer.
Biki­ni oder Bade­an­zug in Indi­en? Fehlanzeige!

Fischfang à la China

Der ers­te Ein­druck: mäch­ti­ge Fischer­net­ze im Son­nen­un­ter­gang, befes­tigt an schwe­ren Holz­kon­struk­tio­nen. So begrüßt mich Kochi, die Hafen­stadt in Kera­la. Kauf­leu­te vom Hof des Kub­lai Khan sol­len die Net­ze im 13. Jahr­hun­dert ein­ge­führt haben. Sehr effek­tiv scheint die­se Art des Fisch­fangs inzwi­schen nicht mehr zu sein. Meh­re­re Män­ner sind jeweils zum Ein­ho­len des schwe­ren Geräts erfor­der­lich, jedoch ohne nen­nens­wer­tes Ergeb­nis. Ganz anders sieht es bei den Fischern aus, die weni­ge Meter ent­fernt mit kon­ven­tio­nel­len Boo­ten hin­aus aufs Meer fah­ren und mit respek­ta­blen Fang­er­geb­nis­sen zurückkommen.

Kultur in Indien: chinesische Fischernetze in Kochi
Auch ein Stück Kul­tur: chi­ne­si­sche Fischer­net­ze in Kochi

Chi­ne­si­sche Fischer­net­ze als Syn­onym für ver­schie­den­ar­ti­ge kul­tu­rel­le Ein­flüs­se, von Aus­län­dern nach Indi­en gebracht. Allein in Kochi haben sich Por­tu­gie­sen, Hol­län­der und Bri­ten qua­si die Klin­ke in die Hand gege­ben. Wobei die Net­ze der Chi­ne­sen zwei­fel­los den größ­ten Ein­druck hinterlassen.

Leben und Tod am Ganges

Ein Gesicht taucht in mei­nem Blick­feld auf. Ich hat­te nicht gemerkt, wie sich der Mann nähert, mei­ne vol­le Kon­zen­tra­ti­on galt dem Feu­er. An meh­re­ren Stel­len am Ufer des Gan­ges, den Ghats, ver­bren­nen sie die Toten. Hun­der­te. Jeden Tag. Rund um die Uhr. Die Über­res­te wan­dern ins Was­ser. Das Gesicht des Man­nes sieht nicht gut aus. Geschwü­re wach­sen dort. Sei­ne Hand streckt er mir ent­ge­gen, er will Geld. Ich bin in Var­a­na­si ange­kom­men, der vor­letz­ten Sta­ti­on mei­nes Trips durch Indien.

Indische Kultur: Totenverbrennung in Varanasi
Auch ein Teil indi­scher Kul­tur: Toten­ver­bren­nung in Varanasi

Die Toten wer­den am Ufer des Gan­ges ver­brannt, wäh­rend die Leben­den im Fluss baden. Sie waschen sich oder ihre Wäsche. Man­che trin­ken das hei­li­ge Was­ser auch, das tat­säch­lich eine ziem­lich dre­cki­ge Brü­he ist. Ver­un­rei­nigt durch Abfall, Fäka­li­en und Lei­chen­res­te. Auch das ist ein Stück indi­scher Kul­tur. Eine Woche lang beschäf­ti­ge ich mich in Var­a­na­si mit dem Toten­kult der Hin­dus. Und sehe in der hei­li­gen Stadt auch das letz­te Mal eine indi­sche Kuh. Was mir erst anschlie­ßend im ehe­ma­li­gen Kal­kut­ta klar wird. In der Stadt, die sie jetzt Kolk­a­ta nen­nen, gibt es, völ­lig unty­pisch für Indi­en, näm­lich kei­ne Kühe. Dafür aber eine Stra­ßen­bahn, es ist die ein­zi­ge in Indien.

Morgendliches Ritual: Baden und Beten in Varanasi
Mor­gend­li­ches Ritu­al: Baden und Beten, neben­an wer­den die Toten verbrannt

Was ist nun typisch indisch?

Ich habe gelernt, dass vie­le der gän­gi­gen Kli­schees nicht zutref­fen. Fast alles kann ent­we­der so sein oder so. Oder aber ganz anders. Es gibt Men­schen in Indi­en, die kein Fleisch essen, ande­re wie­der­um tun es. Eini­ge schlach­ten Tie­re, ande­re opfern sie. Man­che Inder trin­ken kei­nen Alko­hol, ande­re dafür um so mehr. Yoga, typisch indisch? Ich habe kei­nen ein­zi­gen Inder getrof­fen, der Yoga prak­ti­ziert. Prem Kumar in Kova­lam ist die Aus­nah­me, der aber ist auch Yoga-Leh­rer, es ist sein Beruf.

Adivasi-Frau im Bastar Distrikt in Chhattisgarh
Adi­va­si-Frau im Bastar Distrikt in Chhattisgarh

Stich­wort „Hygie­ne“: Rich­tig ist, dass Indi­en ein gewal­ti­ges Müll­pro­blem hat und teil­wei­se ziem­lich dre­ckig ist. Die ande­re Sei­te: Die meis­ten Inder baden oder waschen sich zwei­mal täg­lich, suchen dafür im Zwei­fels­fall den nächs­ten Brun­nen auf, irgend­wo an der Stra­ße. Oder einen Teich. Ich habe in einem Haus auf dem Land, irgend­wo in Zen­tral­in­di­en, vom Fuss­bo­den geges­sen, im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes. Mit einem Bana­nen­blatt als Tel­ler. Es mag kuri­os klin­gen, aber sau­be­rer als dort könn­te es kaum sein.

Kultur in Indien: Ländliche Idylle im Bastar Distrikt
Länd­li­che Idyl­le, auch das gibt es in Indien

Indien: extrem und fotogen

Drei Mona­te sind zu kurz, um ein sol­ches Land wirk­lich zu ver­ste­hen. Ledig­lich ein wenig an der Ober­flä­che konn­te ich krat­zen, um einen Ein­druck zu bekom­men von indi­scher Kul­tur. Ob ich irgend­wann zurück­keh­ren wer­de? Ich kann es nicht sagen, mög­li­cher­wei­se nicht. Indi­en ist span­nend. Extrem. Und zudem äußerst foto­gen. Und doch hat es mich nicht so in den Bann gezo­gen, dass ich dort unbe­dingt wie­der hin will. Was aber nicht dar­an liegt, dass ich anschlie­ßend eine Woche brau­che, um wie­der “anzu­kom­men”, mich zu Hau­se wie­der zurecht­zu­fin­den. Dort, wo es auf ein­mal unge­wohnt ruhig und sau­ber ist. Wo die Men­schen nicht am Stra­ßen­rand oder am Strand ihre Not­durft ver­rich­ten. Und wo nicht stän­dig gerotzt, gerülpst oder gespuckt wird.

Kultur in Indien: indische Frauen im Bundesstaat Chhattisgarh
Frau­en in Mode­nar, Bastar Distrikt, Zentralindien

Es gäbe noch viel mehr zu berich­ten. Anek­do­ten zu ande­ren kul­tu­rel­len The­men. Von mei­ner Erfah­rung mit Bhang Las­si in Udai­pur etwa. Dem can­na­bis­hal­ti­gen Getränk, süß und fruch­tig, aber mit mäch­tig berau­schen­der Wir­kung. Oder von indi­schen Space Coo­kies, die sich wun­der­bar eig­nen, um lan­ge Fahr­ten mit Bus oder Bahn zu über­ste­hen – qua­si wie im Schlaf. Wobei das The­ma Zug­fah­ren in Indi­en ohne­hin Stoff böte für eine eige­ne Repor­ta­ge. Eine Woche etwa habe ich ins­ge­samt in Zügen und Bus­sen verbracht.

Kultur in Indien, Kamasutra
Tabu­the­ma Sex? Kama­su­tra als Kunst in Raghurajpur

Indien: Vielfalt & Widersprüche

Dann wäre da noch das The­ma Sex und Zärt­lich­keit, eigent­lich ein Tabu in der indi­schen Öffent­lich­keit. Ich muss dazu immer an die nicht jugend­frei­en Dar­stel­lun­gen von Lie­bes­ak­ten an indi­schen Tem­peln den­ken. Oder an den sym­pa­thi­schen Künst­ler in Rag­hura­j­pur, der mir stolz sei­ne wohl­ge­lun­ge­nen Illus­trie­run­gen des Kama­su­tra prä­sen­tier­te. Nicht, ohne dabei schel­misch zu schmun­zeln. Ich hät­te ihm das Kunst­werk abkau­fen sol­len, es wäre eine bemer­kens­wer­te Erin­ne­rung an Indi­en, die­ses Land vol­ler Wider­sprü­che. Für das vor allem eines typisch ist: sei­ne unglaub­li­che Viel­falt. Und die hei­li­gen Kühe natür­lich. Auch wenn die längst nicht so unan­tast­bar sind, wie es der Ruf besagt, der ihnen vorauseilt.

Autor, Reisereporter und Reiseblogger. Nachdem man ihn dazu gebracht hat, seine vorherige berufliche Karriere zu beenden (um das böse Wort Mobbing zu vermeiden), treibt ihn die Neugier hinaus in die Welt und er erzählt Geschichten von unterwegs.

18 Kommentare zu “Indien! Kultur, Klischees & heilige Kühe

  1. Hi Wolf­gang, dan­ke für die­sen tol­len Bericht & dass du uns an dei­ner 3monatigen Rei­se teil­ha­ben lässt, und dan­ke auch, dass du uns zeigst, dass vie­le Kli­schees, auf die man immer wie­der trifft, nicht zutref­fen. Das gilt für so vie­le Län­der die­ser Welt. In Indi­en war ich noch nicht, steht aber ganz weit oben auf mei­ner lis­te!? und wie immer: dei­ne Fotos gefal­len mir unheim­lich gut, die machen so viel Lust auf mehr! Am liebs­ten würd ich jetzt sofort in den Flie­ger stei­gen & ab nach Indi­en. ? Alles lie­be, Fari

    • Wolfgang

      Hey Fari,
      lie­ben Dank für das coo­le Feed­back und schön, dass Dich der Text nicht abschreckt (soll er ja auch nicht … 😉 ), son­dern Lust auf das Land macht! Ja, das mit den Kli­schees trifft auf sehr vie­le Län­der zu, viel­leicht wäre Vor­ur­tei­le sogar die tref­fen­de­re Bezeich­nung. Die­se Erfah­rung habe auch ich in den meis­ten der ande­ren Län­der, die ich bereist habe, gemacht. Dann hof­fe ich mal, dass es Dich bald nach Indi­en führt und Du dort eben­falls span­nen­de Erleb­nis­se haben wirst … 😀
      Lie­be Grüße
      Wolfgang

  2. Wahn­sinns­ar­ti­kel! Ich fin­de, Indi­en ist wie eine Wun­der­tü­te und passt in kei­ne Kate­go­rie. Über­ra­schun­gen am lau­fen­den Band, sowohl posi­tiv als auch negativ.

    • Wolfgang Käseler

      Dan­ke, Bea­tri­ce! 😉 Ja, incre­di­ble India halt .….

  3. Tol­ler Bei­trag! Mein Besuch in Indi­en ist noch kei­nen Monat her und tat­säch­lich bin ich immer noch dabei, mei­ne Ein­drü­cke zu sam­meln und zu ver­ar­bei­ten, bevor ich selbst drü­ber schrei­ben kann. Dan­ke für die tol­le Erin­ne­rung und Einstimmung!

    Susan­ne

    • Wolfgang Käseler

      Vie­len Dank, Susan­ne! 😉 Oh, dann sind die Ein­drü­cke bei Dir ja noch ganz frisch … und ja, ich muss­te auch erst ein­mal wie­der “ankom­men”, was anfangs gar nicht so ein­fach war!

  4. Hal­lo,
    also für mich ist Indi­en ein­fach zwie­späl­tig. Ich habe freund­li­che Men­schen erlebt und pracht­vol­le Paläs­te bestaunt. Jedoch habe ich in den Stras­sen auch ein­fach zu viel Müll und Dreck gese­hen. Ob ich noch­mals nach Indi­en rei­se, weiss ich nicht. Zuerst zieht es mich auf jeden Fall in ande­re (asia­ti­sche) Länder.
    Lg Thomas

    • Wolfgang Käseler

      Ja, Indi­en ist ein Land vol­ler Kon­tras­te und Wider­sprü­che! Und die Wir­kung auf sei­ne Besu­cher ist halt auch sehr unterschiedlich … 😉

  5. Ich glau­be, dass Indi­en das Rei­se­land ist, an dem ich am meis­ten über mich sel­ber gelernt habe. Eini­ges hat mich auch erschreckt: Zum Bei­spiel in wel­chem Aus­mass die oft kras­se Armut ganz ein­fach nor­mal wur­de. Aber es lehr­te mich auch, wie ich sel­ber mit wid­ri­gen Umstän­den zurecht­kom­me und wie wenig ich eigent­lich brau­che, um zufrie­den zu sein. Nun, fünf Jah­re nach mei­ner letz­ten Rei­se durch Indi­en, die übri­gens auch drei Mona­te dau­er­te, habe ich wie­der Lust auf die Regi­on. Mal schau­en, wann ich dafür Zeit fin­de. Tol­ler Artikel.

    • Wolfgang

      Moin Oli,
      dan­ke für Dei­ne inter­es­san­ten Gedanken.
      Ja, Armut als “nor­mal” anzu­se­hen, ist sicher ein wesent­li­ches Kern­the­ma einer sol­chen Rei­se. Wobei ich fin­de, dass die Betrof­fe­nen das ja selbst am meis­ten so emp­fin­den. Eben, weil sie teil­wei­se über­haupt kei­nen Ver­gleich haben, es gar nicht anders ken­nen. Und dabei, bei allem Mini­ma­lis­mus, trotz­dem ziem­lich glück­lich sind. Ich wer­de nie die fröh­li­chen Gesich­ter von Men­schen ver­ges­sen, die über­haupt nicht wis­sen, was ihnen alles (ver­meint­lich) “fehlt”.
      Bin selbst auch gespannt, wann ich wie­der Lust habe, das Land zu berei­sen. Es scheint, wie ich Dei­ner Äuße­rung ent­neh­me, also tat­säch­lich etwas Abstand zu brau­chen … wir wer­den sehen! 😉

  6. Wirk­lich tol­ler Bei­trag. Ich war mal vor eini­gen Jah­ren auf Sri Lan­ka. Da wur­de uns gesagt, es gäbe Tee mit Schaum – es gibt dort auch ein Aus­schank­ver­bot. Dei­ne Tee­kan­ne hat mir ein Lächeln ins Gesicht gezau­bert. Ger­ne wür­de ich mal nach Indi­en rei­sen, dann aber auch doch wie­der nicht. Das Land ist ein­fach schwer kal­ku­lier­bar. VVr allem für Frauen!

    • Wolfgang Käseler

      Vie­len Dank, Lisa! 😉 Ja, das mit dem “Tee” war lus­tig, ich muss selbst auch schmun­zeln, wenn ich dar­an zurückdenke … 😀

      Ich fand Indi­en übri­gens gar nicht so “schwie­rig”, als Frau wird das ein wenig anders aus­se­hen, klar. Aber z.B. der Arti­kel von Stef­fi, den ich am Ende ver­linkt habe, besagt ja , dass auch hier oft über­trie­ben wird und dass es eben nicht so pro­ble­ma­tisch ist, wie es uns das Kli­schee gern weis­ma­chen will …
      LG, Wolfgang

  7. Hal­lo Wolfgang, 

    auch wenn Indi­en abso­lut nicht mein Rei­se­land ist hat mit dein Arti­kel sehr gut gefal­len und auch dei­ne Fotos sind rich­tig gut. 🙂 Bei den hei­li­gen Kühen vor dem Was­ser­fall muss­te ich schmun­zeln. Ein wirk­lich sehr gelun­ge­ner Artikel. 

    Vie­le Grüße
    Peggy

    • Wolfgang

      Vie­len Dank, Peggy! 😉 

      Bin ja von Natur aus neu­gie­rig: was spricht denn für Dich gegen Indi­en als Reiseland?

  8. Mich zieht nichts nach Indi­en. Es gibt nichts was mich dort wirk­lich inter­es­sie­ren wür­de. Da gibt Orte die ich lie­ber berei­sen möchte. 🙂

    • Wolfgang Käseler

      Oh! Dabei ist Indi­en doch so viel­sei­tig … nicht nur kul­tu­rell, son­dern auch land­schaft­lich. Wohin zieht es Dich denn dann eher?

  9. Hal­lo Wolfgang,

    habe Dei­nen Arti­kel gra­de ers­te “ent­deckt” und mir gefällt Dei­ne Art zu Schrei­ben über­aus gut. War sel­ber im Zuge mei­ner Lang­zeit­rei­se ein paar Mona­te in Indi­en und fin­de mei­ne Ein­drü­cke und Erleb­nis­se in Dei­nen Beschrei­bun­gen so gut wie­der. Inter­es­san­ter­wei­se auch die Erkennt­nis, dass Dir Indi­en nicht so unter die Haut ging, das war bei mir näm­lich auch so – auch wenn ich es super span­nend, inter­es­sant und auch lie­bens­wert fand.

    Vie­len Dank und viel Spaß noch beim Reisen,
    Heike

    • Wolfgang

      Hal­lo Heike,
      herz­li­chen Dank für Dein net­tes Feed­back und für Dich auch alles Gute! 😉

      LG, Wolf­gang

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